Phase 1: Das Vorverfahren

Habe ich bereits im Vorverfahren das Recht auf einen Anwalt?

Sobald ein Strafverfahren beginnt, besteht das Recht auf einen sog. «Verteidiger der ersten Stunde» (Art. 159 Abs. 1 StPO). Bereits bei der ersten polizeilichen Einvernahme hat die beschuldigte Person das Recht, dass ihre Verteidigung anwesend ist und Fragen stellen kann.

Wie ist das Vorverfahren aufgebaut?

Am Anfang eines ordentlichen Strafverfahrens steht das Vorverfahren, welches aus dem polizeilichen Ermittlungsverfahren und dem staatsanwaltschaftlichen Untersuchungsverfahren besteht (Art. 299 Abs. 1 StPO).

Wie wird das Vorverfahren eingeleitet?

Ein Vorverfahren wird durch eine Anzeige, einen Strafantrag oder eine Behörde eingeleitet. In der Regel wird folglich zunächst die Polizei auf der Grundlage von Anzeigen, Anweisungen der Staatsanwaltschaft oder eigenen Feststellungen zur Aufklärung des Sachverhalts tätig (Art. 300 Abs. 1 lit. a StPO, Art. 306 Abs. 1 StPO).

Was ist das Ziel des Vorverfahrens?

Ausgehend vom Verdacht, es sei eine Straftat begangen worden, ist gemäss Art. 299 Abs. 2 StPO das Ziel des Vorverfahrens, festzustellen, ob:

  • gegen eine beschuldigte Person ein Strafbefehl zu erlassen ist,
  • gegen eine beschuldigte Person Anklage zu erheben ist,
  • oder das Verfahren einzustellen ist.

Wie läuft das polizeiliche Ermittlungsverfahren ab?

Die Polizei stellt im Ermittlungsverfahren zunächst den für eine Straftat relevanten Sachverhalt fest (Art. 306 Abs. 1 StPO). Sie hat insbesondere Spuren und Beweise sicherzustellen und auszuwerten, geschädigte und tatverdächtige Personen zu ermitteln und zu befragen sowie tatverdächtige Personen nötigenfalls anzuhalten und festzunehmen oder nach ihnen zu fahnden (Art. 306 Abs. 2 StPO).

Erhält die Polizei Kenntnisse über schwere Straftaten oder schwerwiegende Ereignisse, hat sie unverzüglich die Staatsanwaltschaft zu informieren (Art. 307 Abs. 1 StPO). Diese eröffnet eine Untersuchung und kann dabei der Polizei jederzeit Weisungen und Aufträge erteilen oder das Verfahren an sich ziehen (Art. 307 Abs. 2 StPO). In den übrigen Fällen handelt die Polizei eigenständig und übermittelt ihre Feststellungen, welche sie laufend in schriftlichen Berichten festhält, erst nach Abschluss ihrer Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft (Art. 307 Abs. 3 StPO). Sie kann von der Berichterstattung absehen, wenn zu weiteren Verfahrensschritten der Staatsanwaltschaft offensichtlich kein Anlass besteht und keine Zwangsmassnahmen oder andere formalisierte Ermittlungshandlungen durchgeführt worden sind (Art. 307 Abs. 4 StPO).

Wann wird ein staatsanwaltschaftliches Untersuchungsverfahren durchgeführt?

Die Staatsanwaltschaft eröffnet gemäss Art. 309 Abs. 1 StPO eine Untersuchung, wenn:

  • ein hinreichender Tatverdacht besteht,
  • sie Zwangsmassnahmen anordnet,
  • und sie über den Verdacht auf ein schweres Delikt oder ein schwerwiegendes Ereignis informiert wird.

Zu beachten gilt, dass dieser Eröffnungsverfügung der Staatsanwaltschaft lediglich deklaratorische Wirkung zukommt. Dies bedeutet, dass das Untersuchungsverfahren als eröffnet gilt, sobald die Staatsanwaltschaft mit der Befassung des Sachverhalts beginnt.

Sind hingegen die fraglichen Straftatbestände oder die Prozessvoraussetzungen eindeutig nicht erfüllt, bestehen Verfahrenshindernisse oder ist aus den in Art. 8 StPO aufgezählten Fällen des Opportunitätsprinzips auf eine Strafverfolgung zu verzichten, kann die Staatsanwaltschaft eine Nichtanhandnahmeverfügung erlassen (Art. 310 Abs. 1 StPO). Sobald die Staatsanwaltschaft jedoch Untersuchungshandlungen vorgenommen hat, hat sie das Verfahren stattdessen mit einer Einstellungsverfügung abzuschliessen (Art. 310 Abs. 2 StPO).

In der Praxis hat sich gezeigt, dass die Staatsanwaltschaft in den nach Art. 307 Abs. 1 StPO meldepflichtigen Fällen schwerer Kriminalität das Verfahren relativ früh an sich zieht beziehungsweise das Untersuchungsverfahren nach Art. 309 Abs. 1 StPO eröffnet. Bei Alltagskriminalität bleibt die Polizei hingegen beinahe bis zum Abschluss des Vorverfahrens eigenständig tätig.

Was passiert im staatsanwaltschaftlichen Untersuchungsverfahren?

Im Untersuchungsverfahren befasst sich die Staatsanwaltschaft stärker mit der rechtlichen Bewertung und im Zentrum steht dabei die Frage, ob die Beweise insgesamt für eine Anklageerhebung ausreichen (Art. 308 Abs. 1 StPO).

Die Staatsanwaltschaft führt die Einvernahmen der beschuldigten Person und weiterer Beweispersonen durch, nimmt Beweise ab und ordnet Zwangsmassnahmen an. Bestimmte Zwangsmassnahmen müssen dabei gemäss Art. 18 Abs. 1 StPO vom Zwangsmassnahmengericht genehmigt – beispielswiese die Telefonabhörung oder der Einsatz verdeckter Ermittler – beziehungsweise angeordnet werden – wie die Untersuchungs- und Sicherungshaft. Die Staatsanwaltschaft hat dabei die Verfahrensleitung inne und kann auch im Untersuchungsverfahren der Polizei einzelne Ermittlungsaufträge erteilen (Art. 312 Abs. 1 StPO).

Wie wird das Vorverfahren abgeschlossen / beendet?

Nachdem die Staatsanwaltschaft ihre Untersuchung abgeschlossen hat, entscheidet sie, ob sie:

  • einen Strafbefehl erlässt (Art. 352-356 StPO),
  • das Verfahren einstellt (Art. 319-323 StPO),
  • oder Anklage erhebt (Art. 324-327 StPO).

Falls die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt, verliert die Staatsanwaltschaft die Verfahrensleitung (Art. 328 StPO). Die Verfahrenshoheit geht an das zuständige Gericht über und es kommt zum Hauptverfahren.

Wann stellt die Staatsanwaltschaft ein Vorverfahren ein?

Im Grundsatz stellt die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 319 Abs. 1 StPO ein Verfahren ein, wenn:

  • kein hinreichender Tatverdacht besteht,
  • kein Straftatbestand erfüllt ist,
  • Rechtfertigungsgründe einen Straftatbestand unanwendbar machen,
  • Prozessvoraussetzungen fehlen oder Prozesshindernisse aufgetreten sind,
  • oder nach gesetzlicher Vorschrift auf Strafverfolgung oder Bestrafung verzichtet werden kann.

Wann erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage?

Die Staatsanwaltschaft erhebt gemäss Art. 324 Abs. 1 StPO beim zuständigen Gericht Anklage, wenn sie aufgrund der Untersuchung die Verdachtsgründe als hinreichend erachtet und keinen Strafbefehl erlassen kann.